Die Chorkleidung der Celler Stadtkantorei
(ein Bericht von Thomas Hauf)

Ein hervorstechendes Merkmal der Celler Stadtkantorei, deren Bestehen sich 2024 zum hundertsten Mal jährt, ist die bei Konzerten und Gottesdiensten getragene Chorkleidung. Sie besteht aus einem langen schwarzen, ärmellosen, talarähnlichen Radmantel mit weißem aufgesetzten Kragen. Was hat es mit dieser Chorkleidung auf sich? Was sind ihre Wurzeln? Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.

Das Besondere am Chorgesang ist das Bemühen um die Einheitlichkeit des Klanges. Keine einzelne Stimme soll herauszuhören sein. Jeder trägt mit seiner Stimme zu einem gemeinsamen Klangbild bei. Im Gegensatz zu solistischem Singen ordnet sich jeder Sänger und jede Sängerin der Gemeinschaft unter und passt sich in Lautstärke, Ton und Tempo immer dem gemeinsamen Klang an.  Es ist von daher natürlich, diese Gemeinsamkeit auch im äußeren Erscheinungsbild auszudrücken.

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(Celler Stadtkantorei. Foto M.Constabel)

In Deutschland singen ca. 2.100.000 Menschen als Amateure in 55.760 Chören und Ensembles (Stand 2017), davon 700.000 in 33.670 kirchlichen Chören mit etwas mehr als der Hälfte davon in der evangelischen Kirche. Entsprechend dieser großen Zahl an Chören ist auch das Erscheinungsbild bunt und vielfältig. Es reicht vom klassischen schwarz, schwarz-weiß, über bunte Schärpen und Schals bis zu maßgeschneiderten Outfits. Die meisten der kirchlichen Chöre geben sich für weltliche und gottesdienstliche Auftritte und je nach Anlass verschiedenes Aussehen, so auch die Celler Stadtkantorei. Nicht für alle Chöre lässt sich auf einfache Weise die Chorkleidung feststellen, aber sucht man im Internet, so findet man nur bei wenigen Chören auf Anhieb traditionelle Formen der Chorkleidung, die jedoch nur zu besonderen Anlässen getragen werden, während zu anderen Anlässen andere passende weltliche Kleidung zum Einsatz kommt, die sich aber dann nicht von dem Erscheinungsbild der anderen zigtausend Chöre Deutschlands unterscheidet. Unzweifelhaft trägt die historische Kleidung zur Profilbildung eines Chores bei. Katholische Chöre lehnen sich dabei häufiger an die liturgische Kleidung der katholischen Kirche an. Die Wurzeln reichen dabei zu den im Frühmittelalter gegründeten Domschulen Mitteleuropas, denn hier entstanden die ersten Knabenchöre zur Wahrnehmung liturgischer Aufgaben im Gottesdienst. So wurde z.B. 975 in Regensburg eine Domschule gegründet, aus der dann die weltbekannten Regensburger Domspatzen hervorgingen. Entsprechend trugen die Chorknaben ein liturgisches Gewand, in Regensburg tragen sie dieses auch heute noch1. Ähnliches findet sich in den anderen Domschulen wie beispielsweise in Mainz, Trier oder Köln.
In der evangelischen Kirche reicht eine weitere Wurzel der Chorkleidung zu den Kalandbruderschaften des Mittelalters, die damals in vielen norddeutschen Städten verbreitet waren. Diese Bruderschaften waren Vereinigungen von ursprünglich nur Geistlichen, je nach Region später dann auch zusammen mit Laien, Frauen und Männern. Sie übten wohltätige Zwecke aus, hielten gemeinsame Gottesdienste ab und feierten zusammen.

[1] https://domspatzen.de/

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(Briefmarke mit Luther als Kurrendesänger. Foto Wikipedia)

Auch in Celle kann eine Kalandgesellschaft oder ein Kaland seit 1310 nachgewiesen werden2. Der Celler Kaland hatte ein eigenes Anwesen in der Kalandgasse mit der heute noch sichtbaren alten Lateinschule, die Mitte des 14. Jahrhunderts vom Kaland selbst gegründet wurde. Weiterhin wohnten Chorschüler unter dem Dach der Lateinschule. In dieser ist bis heute ein Probenort der Stadtkantorei. Es ist in Celle und an anderen Orten dokumentiert, dass eine Kalandbruderschaft neben dem Schulchor einen Laufchor, eine Kurrende, aus zumeist bedürftigen und deswegen vom Schulgeld der Lateinschule befreiten, aber stimmlich herausragenden Jungen, den Kurrendeknaben, unterhielt. Diese zogen bei Familienfeierlichkeiten, Begräbnissen oder Chortagen von Tür zu Tür, um für ein Almosen Choräle und geistliche Volkslieder zu singen. Die Kurrendesänger konnten so mit ihrem Gesang etwas Geld verdienen. Das Geld wurde vom Kaland verwaltet und verteilt. Schulchor und Kurrende überschnitten sich in ihren Rechten und Pflichten und sind nicht immer auseinanderzuhalten.3 

Auch der junge Martin Luther zog in Eisenach einst als Kurrendesänger von Haus zu Haus oder sang bei besonderen Festen. Eine Briefmarke mit Bild aus der Reformationszeit zeigt Luther mit anderen Kurrendesängern in einen talarähnlichen Umhang gekleidet. Eine besondere Aufgabe der Kurrendesänger war auch die Gestaltung des Quempas, ein adventszeitlicher Wechselgesang mit Kindern und Chor, der auch von der Celler Stadtkantorei heute noch gepflegt wird. Nach der Reformation und der Auflösung der Kalandgesellschaften ging deren singende Fraktion in den neu gegründeten Kantoreien auf, wobei die Funktion der Kurrendesänger durch Mitwirkung in Gottesdiensten, bei kirchlichen Festen, bei Hochzeiten und Beerdigungen gegen Almosen in der einen oder anderen Form und regional verschieden weiterbestehen blieb. Der junge Sebastian Bach trat nahezu zweihundert Jahre nach der Reformation während seiner Zeit bei seinem Vormund und Bruder Johann Christoph 1695-1700 in Ohrdruf (Landkreis Gotha) als Kurrende- und Chorsänger in Erscheinung. Durch die Umgänge der Kurrende in der Stadt trug er so zum Lebensunterhalt seiner Gastfamilie mit bei. In Celle nahm im 18. Jahrhundert die Bedeutung des Schulchores ab, teils durch geringere Schülerzahl infolge der Auflösung des Hofes, teils, dass die Sänger sich durch ungebührliches Verhalten in Misskredit brachten und dadurch die Unterstützung der Stadt und der Bürger verloren4, so dass Anfang des 19. Jahrhunderts der Schulchor aufgelöst wurde. Ein Schicksal, das Kurrenden anderen Orts teilten.

[2] Carla Meyer-Rasch: Kleine Chronik der Kalandgasse. Georg Ströher Verlag, Celle 1951. [3] Marianne Encke: 400 Jahre Lateinschule Celle. Cellesche Zeitung 24.Juni 2003. [4] https://www.history-of-emotions.mpg.de/texte/gemischte-gefuehle

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(Typische Holzfiguren von Sachsens Kurrendesängern. Foto Thomas Hauf)

Insbesondere in Sachsen jedoch haben sich Kurrenden über die Jahrhunderte gehalten und sind dort mit über 500 Kurrenden und Kinderchören Teil des evangelischen Chorbrauchtums und der regionalen Frömmigkeit.

Dies zeigt sich auch in den beliebten Holzfiguren aus dem Erzgebirge. Wie eh und je ziehen in der Advents- und Weihnachtszeit Kurrendesänger in ihrer traditionellen Kleidung, den schwarzen Radmänteln, durch den Ort und singen Weihnachtslieder. Außerdem gestalten sie die Wechselgesänge im Gottesdienst mit.

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(Freiberger Kurrende vor dem Dom. Bild: © Freiberger Dom/Detlev Müller)

Waren die Kurrenden in früherer Zeit auf Jungen beschränkt, sind es heute mehrheitlich Mädchen.

Die „Chormusik in deutschen Amateurchören“ gehört seit 2014 zum immateriellen UNESCO-Kulturerbe Deutschlands. Fest verbunden mit der Tätigkeit der deutschen Amateurchöre, zu denen auch die Kantoreien zählen, ist die Pflege eines wertvollen kulturellen Schatzes. Mit der Chormusik verfügen die deutschen Amateurchöre über ein Repertoire, das untrennbar mit ihrer Wirksamkeit und Entstehung verknüpft ist. Kulturelle Tradition, gesellschaftlicher Aufbruch und lebendiges Engagement verbinden sich bei der Pflege der Chormusik in den deutschen Amateurchören. Sie stellen einen Kern der Musiktradition, des Musiklebens und der Musikpflege in Deutschland dar5. Mit dem Tragen einer auf historischem Ursprung basierenden Chorkleidung tragen Chöre zur Pflege und zum Erhalt einer über tausend Jahre alten Tradition bei.

Seit wann tritt die Stadtkantorei Celle in ihrem typischen Chorgewand auf?
Die Entwicklung der Kantorei von ihren Anfängen bis heute ist in den ersten vierzig Jahren untrennbar mit ihrem ersten Leiter Prof. Fritz Schmidt verbunden. Dieser hatte als Lehrer am Kaiserin-Auguste-Viktoria Gymnasium interessierte Schülerinnen des sog. Kleinchores neben dem Unterricht um sich geschart, die erstmals 1924 und verstärkt durch Männerstimmen anderer Lehranstalten kurze Zeit darauf als Celler Musikantengilde auftraten, aus der sich dann 1933 zunächst als Jugendnachwuchschor die Stadtkantorei bildete. Mit dieser Entwicklung war eine stärkere Anlehnung an die Stadtkirchengemeinde verbunden, deren Organist Schmidt schon seit 1924 war. Aus der Jugendbewegung stammend und als Teil der damit verbundenen Erneuerungsbewegung der Musik widmete sich Schmidt geistlicher Musik und insbesondere der Wiederentdeckung der Werke von Heinrich Schütz. Allein dessen Matthäuspassion wurde bis 1932 unter Schmidt zweiundzwanzigmal aufgeführt.  Schmidt hat sich nachgewiesenermaßen, als es um die einheitliche Chorkleidung über das schlichte konzertmäßige Schwarz der früheren Auftritte der Musikantengilde hinausging, davon leiten lassen, dass er als Organist in der ehemaligen Lateinschule im Gebäudekomplex des Celler Kalands wohnte, in dem auch der Probenraum der Musikantengilde und später der Kantorei lag und unter dessen Dach ehemals Chorknaben wohnten. Was lag da näher als dass Schmidt bei so vielen konkreten und persönlichen historischen Bezügen die Kurrendesänger als Vorbild nahm?  Und zwar in der in Sachsen tradierten Form des schwarzen Radmantels mit weißem aufgesetztem Kragen. Die ersten Chormäntel wurden 1935 vom Celler Kaufhaus Gödecke und Mittelmann angeschafft und interessanterweise von der Stadt finanziert. Ursprünglich für die Nachwuchssänger der Kantorei gedacht, wurden sie im Laufe der Zeit mit dem Älterwerden der Chormitglieder nunmehr auch von Erwachsenen getragen. So ist es bis heute auch geblieben.

[5] UNESCO Deutschland. https://www.unesco.de/

Welche Chöre Deutschlands tragen heute noch eine ähnliche Chorkleidung wie in Celle?
Die Frage läßt sich allein aufgrund der schieren Zahl an Chören nicht umfassend, sondern nur exemplarisch beantworten. Stützt man sich dabei auf das Internet6, so gilt es zu bedenken, daß nicht jeder Chor einen Internetauftritt hat und man daher nur auf einen Teil aller und zumeist dann primär nur auf die größeren Chöre stößt. Man findet so den typischen Radmantel mit aufgesetztem weißen Kragen neben vielen der von Kindern und Jugendlichen gestellten Kurrenden Sachsens u.a. auch bei den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben7, dem Windsbacher Knabenchor8, und im Advent auch bei der Wuppertaler Kurrende9 - d.h. fast ausschließlich bei Jugend- und Kinderchören. Bei Erwachsenenchöre findet sich bei der internetgestützten Suche, dass nur der Chor der Frauenkirche Dresden10 und der evangelischen Bachchor St. Petri in Hamburg11 in ihrem Chorkleidungsfundus auch den Rundmantel besitzen und diesen dann zu einem passenden Auftritt auch tragen.

Sicherlich gibt es noch manch andere, so nicht identifizierte Chöre mit gleicher Chorkleidung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Chorkleidung der Celler Stadtkantorei ihren Ursprung in den frühmittelalterlichen Domschulen, aber hauptsächlich in der Kurrende hat mit Luther und Bach als prominenteste Kurrendesänger. Der Rundmantel mit weißem aufgesetztem Kragen findet sich heute primär bei Kinder- und Jugendchören und nur bei wenigen Erwachsenenchören, so bei der Celler Stadtkantorei. Diese ist mit ihrem hundertjährigen Bestehen und der besonderen Chorkleidung ein herausragendes immaterielles Gut der Stadt Celle. Die Sänger und Sängerinnen der Celler Stadtkantorei dürfen stolz ihre Chorkleidung tragen, wissend, dass sie damit zum Erhalt des Kulturguts des über 500 Jahre alten gemeinsamen Singens in traditioneller Kleidung und damit auch zu dem von der UNESCO anerkannten immateriellen Erbe des Chorsingens in Deutschland beitragen.

Sollten Sie, verehrte Leserinnen und Leser, die Gelegenheit haben, die Kantoreisängerinnen und –sänger in ihrer traditionellen Chorkleidung zu sehen, im Konzert oder wenn sie vom Probenraum in der ehemaligen Lateinschule in der Kalandgasse zum Gottesdienst oder Konzert in die Stadtkirche streben, so wie über 600 Jahre zuvor schon die Choristen der Lateinschule, dann sind Sie Zeuge einer besonderen Tradition dieser Stadt.

[6] Bei Wikipedia gelistete ~150 Erwachsenen-, Jugend- und Knabenchöre; https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Chören. [7] https://www.hymnus.de/ [8] https://www.falk-report.de/2017/07/windsbacher-knabenchor-ist-preistraeger/ [9] https://blog.sparkasse-wuppertal.de/kurrende/ [10] https://www.frauenkirche-dresden.de/chor [11] https://www.hamburger-bachchor.de/der-chor-1/